Reportage: Der Alltag mit Sehbehinderung

10. August 2021

GYM

Reportage: Der Alltag mit Sehbehinderung

Wie geht man durchs Leben, wenn man kaum sieht, wohin man eigentlich geht? Frau Esther Garo, stark sehbehindert, plaudert gerne stundenlang offen über ihr eingeschränktes Leben und wie sie es wahrnimmt. Mit Unerschrockenheit, Lebensfreude und einer Prise Humor akzeptiert sie ihr Schicksal und meistert ihren Alltag.  Eine Reportage von Audrey Grötzinger, entstanden  im Rahmen einer Maturaarbeit.

Schlimmer geht immer

Atemlos komme ich ins Café Brésil hereingerannt. Ich bin ein paar Minuten zu spät und halte nach Frau Garo Ausschau. Es hiess, ich würde sie sofort erkennen, doch im Gewusel sticht mir niemand ins Auge. Doch, jetzt sehe ich eine Frau, die ich für Frau Garo halte, denn unter dem Tisch versteckt liegt ein tiefschwarzer Hund, vermutlich der angekündigte Blindenhund. Tief luftholend gehe ich mit durchgestrecktem Rücken, was unsinnig ist, da sie mich so deutlich gar nicht sehen kann, auf den Tisch zu und stelle mich entschuldigend vor. Binnen weniger Minuten nimmt sie mir mit ihrer freundlichen Art die Nervosität und hegt auch keinerlei Groll bezüglich meiner Verspätung.

Früher war sie allerdings viel hitziger. Als Kind wurde sie stets sehr wütend, wenn es jemand wagte, ihre Sehbehinderung zu thematisieren. Das war ein absolutes Tabu, welches zu laut zugeschlagenen Türen führte. Esther Garo wurde mit dem Grauen Star geboren, einer häufigen Krankheit unter Senioren. Das Sehzentrum muss in den ersten Lebensjahren fertig ausgebildet werden, ein Prozess, der vom Grauen Star stark behindert wird. Es handelt sich dabei um eine Linsentrübung, weshalb heutzutage bei der angeborenen Form die Linse sofort operativ durch eine künstliche ersetzt wird. Nur so kann eine vollständige Entwicklung des Sehzentrums gewährleistet werden. Damals war dieses Verfahren jedoch relativ neu und man schreckte bei Babys vor Operationen zurück.

Bei Frau Garo wurde erst einmal abgewartet. Ein paar Jahre später wurde ihr eine dicke Hornbrille auf die Nase gesetzt. So sah Frau Garo in ihrer Kindheit nicht schlecht und konnte ganz normal am alltäglichen Leben teilhaben, hatte allerdings öfters kleine, ungelenke Unfälle. Übersehene Absätze oder Treppenstufen und falsch eingeschätzte Tischecken oder Türrahmen machten sie zu einer Stammbesucherin der Notaufnahme. All jenes wurde jedoch als Tollpatschigkeit abgetan. Genaue Visuszahlen von damals kennt Frau Garo nicht, denn es gibt keine Akten mehr und sie wollte damals sowieso ganz normal behandelt werden, da sie sich selbst nicht besonders eingeschränkt fühlte.

Im Verlauf der Jahre änderte sich dies aber drastisch, denn es häuften sich Schwierigkeiten mit den schlechter werdenden Augen. Frau Garo, die gegen Ende ihrer Teenagerjahre statt der hässlichen Hornbrille Linsen zu tragen begonnen hatte, entwickelte eine Unverträglichkeit gegen eben diese und die schmerzenden, tränenden Augen wurden unaushaltbar. So entschloss sie sich mit Mitte zwanzig zu einer Operation, um endlich wieder besser oder zumindest so gut wie in Kindheitsjahren, sehen zu können. Nach nervenaufreibender Suche nach einem Arzt, der sich solch eine Linsenimplantation zutrauen würde, bekam sie endlich, was sie sich sehnlichst wünschte. Alles war gut verlaufen und Frau Garo bekam zum ersten Mal eine konkrete Diagnose: Sie hatte einen Visus von 70% auf dem besseren Auge. Das reichte sogar um Autofahren zu dürfen!

Sie war überglücklich, auch Linsen waren nicht mehr von Nöten. Leider würde diese Phase nicht lange andauern. Nur wenige Jahre nach der Operation kam ans Licht, dass ausgerechnet auf dem besseren Auge eine falsche Linse implantiert wurde. Daraufhin musste man diese wieder entfernen. Der dazu benötigte lange Schnitt hat zu einer schlimmen Hornhautverkrümmung geführt. Ihr ursprünglich gutes Auge verlor zügig an Sehkraft. Heute verbleiben 10-15% an Sehkraft. Somit blieb noch ein Auge übrig, welches aber stets das schlechtere Reserveauge gewesen war und welches auch ziemlich schnell an Sehkraft verloren hatte. Heute kann es nur noch hell und dunkel unterscheiden.

Als wäre dies nicht genug, entwickelte Frau Garo zusätzlich ein Glaukom, auch Grüner Star genannt. Das Kammerwasser in ihren Augen drückt zu stark auf den Sehnerv, was trotz Tröpfchen, die den Druck konstant halten, zu irreversiblen Sehnervschädigungen geführt hat. Heute helfen keine Brillen oder Linsen mehr, der Schaden ist irreparabel. Zukunftsaussichten: Entweder bleibt die Sehbehinderung in etwa im selben Bereich oder sie könnte sich bis zur vollständigen Erblindung verschlimmern. Ich hole tief Luft und schaue auf. Die Geschichte hat mich in ihren Bann gezogen, immer, wenn ich nicht damit gerechnet habe, hat sich die Situation noch verschlimmert.

Meine Augen wandern gehetzt durch den Raum und schlingen gierig jedes Detail auf. Ich versuche so viel und so weit wie nur möglich zu sehen. In diesem Moment bin ich einfach nur dankbar für meine Sehkraft, die ich immer als selbstverständlich abgetan habe. Als ganz kleiner Ball tief in mir hat sich eine Panik vor ähnlichem Schicksal gebildet und ich kann mich kaum auf meine nächsten Fragen konzentrieren. Ich versuche, mir meine innere Unruhe nicht anmerken zu lassen und fahre fort, denn es gibt noch viel mehr über Frau Garo zu erfahren. Ihre Vergangenheit und ihre Krankheitsgeschichte sind nicht ihr gesamter Lebensinhalt. Esther Garo hat zwei Kinder und einen Ehemann, ein hübsches Haus mit Garten, einen gut funktionierenden Alltag und viele Freunde. All diese Dinge stärken sie und geben ihr Normalität zurück.

Unterwegs mit Esther Garo

Auch mit einer so starken Sehbehinderung muss das Leben weitergehen. Gerade bei einem Haus und einer Familie fallen auf täglicher Basis viele Dinge an und die Tage sind gut gefüllt. Nur sind bei Frau Garo schon die kleinen Tätigkeiten mit Hindernissen versehen und brauchen gewisse Strategien, damit sie dennoch abgearbeitet werden können. In meinem Selbstversuch habe ich viele solcher Alltagsszenen nachgestellt und bin beispielsweise beim Kochen auf grosse Schwierigkeiten gestossen. Ich habe ein Curry zubereitet und fand nicht nur das Kleinschneiden der Zutaten kompliziert, sondern auch das Würzen. Ich habe einfach alle Gewürze mit einer Farbe zwischen gelb und rot benutzt, ohne deren Inhalt genau bestimmen zu können. Gerade bei Würzmischungen ist das Auseinanderhalten sehr schwierig. Zum Schluss habe ich gemerkt, dass es zu scharf geraten ist. Solche Probleme löst Frau Garo mit Erfahrung: Sie hat sich zwei Gewürzkistchen zugelegt. Das im Schrank vorne Stehende besteht aus den von ihr am häufigsten benutzten Gewürzen. Auf deren Deckel hat sie zusätzlich einen grossen farbigen Kleber befestigt, um sich mit Hilfe der Farben den Inhalt zu merken. Würzmissgeschicke passieren ihr jetzt nur noch selten, da sie alles zusätzlich mit dem Geruchssinn kontrollieren kann.

Vor dem Kochen muss aber eingekauft werden, was sich durchaus als Spiessrutenlauf erweisen kann. Garos Taktik ist, sich einzuprägen, wo ihre beliebtesten Produkte in ihrer gewohnten Migrosfiliale genau stehen. Wird aber etwas Exotischeres benötigt, gerät sie ins Schwitzen. Entweder sucht sie das Produkt im Laden selber und geht unter Umständen eine halbe Stunde die Regale entlang oder sie fragt einen Mitarbeiter. Ganz fies sei es, meint sie, wenn der Laden auf die Idee komme, umzubauen und das Sortiment neu einzuräumen, denn dann gehe die Suche von vorne los. Gelegentlich frage sie auch ohne Scheu andere Kunden, wenn sie das benötigte Produkt im Regal nicht erkennen könne.

«Dann kommen aber ab und zu auch Kommentare wie: Vor Ihrer Nase! Machen Sie doch die Augen auf.»

«Dann kommen aber ab und zu auch Kommentare wie: Vor Ihrer Nase! Machen Sie doch die Augen auf», erzählt sie unbeschwert, «Aber das muss man sich nicht zu Herzen nehmen, niemand kann schliesslich um meine Sehbehinderung wissen, wenn ich ohne Hund und Stock unterwegs bin.» Wenn es gar schwierig ist, kann sie alternativ auch zum Infoschalter gehen und nach einer Begleitperson verlangen, die mit ihr durch den Laden geht und für sie einkauft. Dies funktioniert jedoch nur, wenn auch jemand frei ist, sonst muss Frau Garo warten.

Obwohl sie ein sehr offener und kontaktfreudiger Mensch ist, geht sie nicht so gerne mitten unter die Leute. Sie liebt es, Freunde zu treffen und hat auch nichts gegen einen Restaurantbesuch, es soll einfach nicht allzu vollgestopft sein, weil die vielen Geräusche und die physische Enge überfordernd sein können. Auch das benötigt ein wenig Vorbereitung, Garo recherchiert gerne im Vornherein die Menükarte, da sie sie am Computer beliebig vergrössern kann. Im Restaurant wirft sie nur einen letzten Blick darüber, da sie sie meistens gar nicht lesen kann und sich die Hilfe der Begleitung oder Bedienung erbitten muss. Sie ist allerding genug selbstbewusst, um dies einfach zu tun, da sie sich nicht dafür schämt. Es kann dabei schon mal vorkommen, dass ihre Freudinnen ganz überrascht reagieren, da sie aufgrund Garos normalem Auftreten und Verhalten schon wieder vergessen haben, wie stark sehbehindert sie eigentlich ist.

Aber nach dem Essen weiterziehen in den Ausgang kann man sie nicht, da sie nichts für Clubs oder Bars übrighat. Abgesehen davon, dass es ihr keinen Spass macht, sind zu viele Menschen auf engem Raum. Das erschwert ihr die Orientation erheblich. Wer steht jetzt wo genau? Welche Person kenne ich und wer ist ein Fremder? Auch die Lautstärke ist sehr belastend, da Garo stark auf den Hörsinn fokussiert ist. So versucht sie allen zuzuhören, was in einer lauten Bar total überwältigend ist. Es wird für sie unmöglich, die Stimmen zu orten und korrekt zuzuordnen. Auf einmal klirrt es ohrenbetäubend laut. Ein Glas ist von einem Tisch gefallen und zerbrochen. Ich bemerke, wie sehr mich dies erschrocken hat und wie mein Herz rast. Rund um mich herum reden aber alle, inklusive Frau Garo, unbeirrt weiter. Es scheint niemandem so laut vorgekommen zu sein wie mir. Vermutlich habe ich mich so sehr ins Gespräch vertieft, dass ich alles andere ausgeblendet und alle Sinneseindrücke heruntergefahren habe.

Schon zuvor habe ich ab und zu Geräusche wie Stühlerücken als übermässig laut und störend empfunden. Ich komme mir gerade sehr merkwürdig vor, als würde ich mich zu sehr in Frau Garo hineinversetzen. Auf jeden Fall kann ich mir nun ansatzweise vorstellen, wie sie sich bei Lärm fühlen muss. Deswegen geht sie statt in eine Nachtbar lieber Nachhause, wo aber noch eine ganze Reihe von Dingen anfallen.

Putzen strategisch geplant

Es muss zum Beispiel geputzt werden, aber Staubsaugen, ohne den Schmutz zu sehen, stellt ein weiteres Problem dar. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass Schmutzpartikel auf dem Boden, auch wenn es grosse Brösel sind, mit Sehbehinderung so gut wie unsichtbar sind. Es kann nicht nach Augenmass gesaugt werden, sondern muss in regelmässigen zeitlichen Abständen geschehen. Eine Garantie für einen effektiv schmutzfreien Boden gibt es dafür kaum.

Hier kommt ein interessanter Trick zum Tragen, der auch ihre ebenfalls sehbehinderte Tochter anwendet, von ihnen Minecraft-Spielen genannt. Minecraft ist ein Computerspiel, in dem die Welt aus quadratischen Blöcken besteht und genau so stellen sich die beiden dann die jeweiligen Zimmer vor. Der Raum wird in Quadrate eingeteilt und dann sorgfältig abgesaugt. Sie gehen also nach Systematik und nicht nach Verschmutzung vor. Mit diesem Trick sollte eigentlich, bei gewissenhaftem Arbeiten, aller Schmutz erwischt werden, obwohl er für die beiden komplett unsichtbar ist. Schüttet Frau Garo anschliessend noch ihren Kaffee aus, steht sie erneut vor einem Problem. Sie weiss nicht sicher, wohin der Kaffee genau lief, da ihr Auge nur Umrisse wahrnimmt. Also muss sie auch hier zur Systematik greifen. Sie weiss auf welcher Tischseite der Kaffee herunterlief und beginnt alles gründlich zu reinigen, Tisch Boden Stuhl etc. Sie arbeitet bei solchen Putzaktionen stets grosszügig und putzt lieber ein paar Flächen zu viel, um sicherzugehen, dass sie nichts übersieht. Nur so kann sie am Ende des Tages guten Gewissens neben ihrem Mann, der ihr eine grosse Stütze ist, einschlafen.

Wenn am nächsten Morgen der Blindenhund zum Auslauf in den Garten gelassen wird, verrichtet dieser auch ungeniert sein Geschäft. Dieser Hund ist kein typischer Blindenhund, denn ein gewöhnlicher wird zuerst ein Jahr lang in einer Familie an alles gewöhnt und überall hin mitgenommen, in Geschäfte, an Meetings und grosse Veranstaltungen. Danach kehrt er zurück in die Ausbildungsstätte und wird während Monaten zum Blindenführhund ausgebildet. Erst jetzt kommt er circa zehn Jahre lang zu einer sehbehinderten Person in den Dienst. Frau Garos Hündin Uraya hat diese Schritte aber nicht durchlaufen, sie kam stattdessen auf Garos Wunsch direkt zu ihr. Garo steht ein Hundetrainer zur Seite, der sie anleitet, um ihren Hund selbst zu erziehen und auszubilden.

Eben diese Ausbildung ist noch nicht lückenlos abgeschlossen und so verrichtet der Hund sein Geschäft nicht nur an den antrainierten Stellen im Garten, sondern gelegentlich auch sonst wo. Da Frau Garo diese Häufchen allerdings nicht sehen kann, zückt sie gerne die Sehbehindertenkarte und lässt ihren Mann Kontrollrunden laufen um den Garten zu reinigen. Bei dieser Aussage grinst sie verschmitzt und ich spüre einen Luftzug am Bein. Erschrocken gucke ich unter den Tisch und stelle mit realisiere erst jetzt, dass der Hund die ganze Zeit über schon unter dem Tisch liegt. Er hat sich äusserst ruhig verhalten und keinen Wank gemacht, lediglich jetzt gerade den Kopf gehoben. Seine Geduld ist beeindruckend, vor allem im Vergleich zu seinen Artgenossen. Frau Garo und die Hündin sind ein gut eingespieltes Team.

Stresssituationen

Zuhause kracht es auch nicht allzu oft, ausser wenn Frau Garos Achillessehne getroffen wird. Man darf ihre Ordnung unter keinen Umständen durcheinanderbringen, das macht sie «fuchsteufelswild». Sie mag es nicht, wenn ihr Portemonnaie nach fremder Benützung auf einer anderen Ablagefläche deponiert wird, da sie es nur mit Mühe sieht und so ewig suchen muss. Alle Dinge haben ihren festen Platz, die einzige Möglichkeit, um effizientes Finden und Fortbewegen zu ermöglichen. Als sehende Person ist dies schwieriger nachzuvollziehen und so passiert auch ihrem Mann hin und wieder ein Fauxpas. Ich kenne dies nur allzu gut. Täglich lege ich meine Sachen achtlos irgendwo hin und muss sie danach suchen gehen. Dies verdeutlicht, wie sehr sich sehende Menschen auf genau diesen Sinn verlassen und alles andere vernachlässigen.

Sie leben viel unbewusster und vergessen viele ihrer Aktionen wieder, wohingegen Sehbehinderte darauf angewiesen sind, sich zu erinnern. Dementsprechend handeln sie bewusster und nehmen dabei auch viel mehr wahr. Es ist für sie überlebenswichtig, da sie, nicht wie «wir», eventuelle Fehler mit dem Sehsinn ausbügeln können. Treffen nun die beiden Welten aufeinander, kann dies zu Reibereien führen. Frau Garo kann zum Beispiel aufgrund ihrer Sehbehinderung zwar nicht besser hören, aber dafür genauer hinhören. Da sie die extreme Fixierung auf den Sehsinn nicht hat, sind ihre anderen Sinne viel trainierter als bei Normalsichtigen. Das kann dann dazu führen, dass ihr Mann den Kindern befiehlt, sich die Zähne zu putzen, während Frau Garo sich aufregt, da sie das leise Brummen der elektrischen Zahnbürste aus dem oberen Stock schon vor 10 Minuten wahrgenommen hat.

Zu solchen Konflikten gehören auch die achtlos auf dem schwarzen Teppich abgestellte dunkle Sporttasche ihres Mannes, die zum gefährlichen Stolperstein für Frau Garo wird. Wenigstens in Bereich der Kindererziehung kann sie nun etwas entspannen, denn ihre beiden Kinder sind im fortgeschrittenen Teenageralter und ziemlich selbstständig. Als sehbehinderte Mutter ist es nämlich sehr anstrengend, zwei Kleinkinder zu haben, besonders Spielplatzbesuche zehren an den Nerven. «Das sind Scheisssituationen», erklärt Frau Garo. «Ich habe ihnen von Anfang an eingetrichtert, dass sie immer mich suchen müssen und nicht umgekehrt, da ich keine Chance dazu hätte.» Um sich etwas zu helfen hat sie ihre Kinder stets in leuchtende Farben gekleidet oder ihnen aussergewöhnliche Mützen aufgesetzt, damit ihr Auge sie von den anderen Kindern abheben kann. In dem Gewusel keine einfache Sache. Ins Schwimmbad ging sie aber nie mit ihnen, da dort im Becken für sie wirklich gar kein Unterschied mehr erkennbar war und die Verantwortung somit untragbar. Erst nachdem sie schwimmen gelernt hatten, traute Frau Garo sich mit ihren Kindern in öffentliche Becken. Bis heute mag sie Sport in der Öffentlichkeit nicht besonders, da sie sich dann auch den Platz ihrer abgestellten Dinge merken muss und bei Spinden mit zu kleinen Nummern auch noch abzählen, welchen sie nun genau benutzt. Geht sie schwimmen im See, muss sie sich auch anhand von Bäumen oder anderen grossen Umrissen den Ausstiegsort merken, damit sie nicht plötzlich nicht mehr zurückfindet. In einem, für viele ganz normalen Alltag verstecken sich für Sehbehinderte wie Esther Garo jede Menge Hürden, die mit Tricks und Hilfsmitteln gelöst werden müssen.

Verloren in der Welt

Das allergrösste und auch stets im Alltag wiederkehrende Thema für Sehbehinderte ist die Orientierung. Meine eigene Strasse war mir bei meinem fünfminütigen, sehbehinderten Spaziergang teilweise fremdgeworden. Die Umrisse und Farben suggerierten mir eine total andere Umgebung als tatsächlich vor mir lag. Meine Nerven waren sehr angespannt. Kleine Unebenheiten können zu Stolpersteinen werden, wichtige Schilder können aufgrund von unlesbarer Schrift zu gefährlichen Situationen führen. Menschen und Fahrzeuge werden schnell übersehen oder für etwas anderes gehalten. In fremder Umgebung wird es noch viel schlimmer. Als ich auf dem Trottoir die Strasse entlangging, konnte ich kaum 20 Meter weit sehen. Das war eine sehr unangenehme Situation für mich, da ich nur schlecht abschätzen konnte, welche Strassenbegebenheiten mich erwarteten und ich auch mehrmals von plötzlich auftauchenden Personen, überrascht wurde. Diese erschütternde Unberechenbarkeit kann zu einer grossen Unsicherheit und Angst auf der Strasse führen.

Frau Garo hat natürlich mehr Übung in Orientierung und kennt ihre Umgebung mittlerweile in und auswendig. In ihrem Kopf befindet sich ein Strassenplan. Alle Orte, an denen sie bereits war, sind für immer eingespeichert. Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis entwickelt und muss alle neuen Wege nur einmal gehen, bevor sie sie memorisiert hat und jederzeit selbstbewusst abgehen kann. Muss sie zum Beispiel geschäftlich nach Bern, schaut sie sich vorher online die Strecke an. Muss sie erneut dorthin, kennt sie den Weg bereits auswendig. Das trifft allerdings nicht zwangsläufig auf jede sehbehinderte Person zu, sondern ist eine Fähigkeit, die Frau Garo erlernt hat. In bekannter Umgebung ist die Orientierung aber einfacher, da Umrisse vertrauter sind. Im Ausland kann ein Bus schnell für eine Häuserzeile gehalten werden, da Farbe und Form noch nicht zugeordnet werden können. Wir haben dies im Café Brésil, welches sich am Bahnhof befindet, direkt mit den Simulationsbrillen ausprobiert.

Tatsächlich wusste ich nur wegen des Standorts und der mir bekannten roten Farbe, dass gerade ein Bus an der Haltestelle hielt. Es hätte genauso gut ein Gebäude sein können. Ich ging also davon aus, dass Frau Garo deswegen keine grossen Reisen unternahm, zumindest nicht alleine. Beherzt fällt sie mir ins Wort und erklärt, dass diese Schwierigkeiten sie nie abgehalten hätten, sie habe sogar schon in Frankreich und Russland gearbeitet. Sie wird etwas nostalgisch und denkt einen Moment lang schweigend an alte Zeiten zurück. Dann beginnt sie eine der spannendsten Geschichten, die ich je gehört habe, zu erzählen. Ich höre an ihrem Ton heraus, welches Vergnügen ihr das Reisen früher bereitet hat und wie selbstverständlich es für sie trotz Sehbehinderung ist.

Vor fast zwanzig Jahren ist sie wegen eines Jobangebots für ein halbes Jahr nach Moskau gezogen. Damals war ihre Sehbehinderung noch nicht so schlimm wie heute, dennoch ziemlich einschränkend. So kam es, dass sie am zweiten Abend die Wohnung verliess, um zu ihrer Schule zu gelangen. Sie hatte in letzter Sekunde ihre Jacke gewechselt und so ihre Adresse nicht dabei. Auf dem Heimweg war sie vermutlich der falschen U-Bahn-Station ausgestiegen und fand sich in fremder Umgebung wieder. Nach stundenlangem Umherlaufen und -fahren gab sie auf und fand sich heulend auf einer Bank wieder. Sie kannte weder Adresse noch Namen der Gastfamilie und sprach kein Wort russisch. Vor ihr lag ein Riesenproblem und sie wusste in ihrer Verzweiflung weder ein noch aus. Zu ihrem Glück kam nach einer Weile ein Pärchen auf sie zu. Die Kommunikation war eine grosse Hürde, da das Pärchen nur Bruchstücke der englischen Sprache beherrschte. Mangels anderer Auswege vertraute Frau Garo ihnen blind und sie gingen gemeinsam jede Treppe jeder U-Bahn-Station hoch, um sich die Umgebung anzuschauen. Moskau ist riesig und es dauerte. Alles was Esther Garo noch wusste, war dass die Wohnung an einer grossen Strasse und dann in einer Seitengasse rechts lag. Um halb zwölf Uhr nachts fanden sie die Wohnung tatsächlich. Alle waren überglücklich. Ihre beiden Retter in der Not sah sie zu ihrem Bedauern nie wieder, sie hätte ihnen doch so gerne noch einmal richtig gedankt und ihnen ein Geschenk gemacht. Zuhause hatte sie zusätzlich noch den Code für die Haustüre nicht mehr im Kopf und musste so eine weitere halbe Stunde warten, bis jemand das Gebäude verliess. Nach dieser Nacht hat Frau Garo sich dazu entschlossen, sich von jetzt an alles ganz genau zu merken.

Ich habe mich auch schon öfters verlaufen, dies aber ohne Sehbehinderung und meist mit einem Handy in der Tasche. Deshalb kann ich mir diese Situation in Moskau kaum vorstellen, da ich weiss, wie schnell ich mich in den Sog der Angst ziehen lasse. Die Erzählung hat mir die Nackenhaare aufgestellt, denn es ist eine meiner Horrorvorstellungen. Dennoch hatte Frau Garo Glück, denn das Ganze hätte weitaus schlimmere Folgen als nur einen grossen Schrecken haben können. Erzählungen, die sie zuvor gehört hatte, zufolge, hätte sie von der russischen Polizei aufgegriffen und ausgeraubt im Gefängnis landen können. So bangte sie in dieser Nacht um ihr Leben.

Innovation ist gefragt

Gerade weil Frau Garo exakt solche Situationen erlebt hat und selbst mit einer starken Sehbehinderung durchs Leben geht, ist sie in ihrem Beruf so erfolgreich. Sie arbeitet beim Schweizerischen Sehbehinderten- und Blindenverband im Sektor Biel und Seeland. Daneben hat sie einen weiteren Job bei Sensability, einem Unternehmen, welches Sensibilisierungen durchführt. Hierbei handelt es sich nicht nur um Sehbehinderungen, es nehmen auch Taube und Stumme, sowie Rollstuhlgänger oder psychisch Behinderte an den Sensibilisierungen in Schulen, Firmen etc. teil. Der Hauptteil Garos Arbeit besteht allerdings darin, die Stadt für Sehbehinderte zugänglicher zu machen.

Dazu setzt sie sich für Blindenstreifen am Boden und Markierungen vor den vordersten Bustüren ein. Die sind mit dem Blindenstock spürbar und so wissen Sehbehinderte, wo sich die Tür befindet. Der Chauffeur kann sie dann über seine Linie informieren. Des Weiteren kämpft sie auch für auditive Hilfsmittel, namentlich in Braille- und Reliefschrift angeschriebene Infoknöpfe in der Stadt, welche Informationen vorlesen. In Bern zum Beispiel, gibt es solche schon, in Biel muss sie noch dafür kämpfen, dass sich Blinde und Sehbehinderte z.B. an Bushaltestellen die Abfahrtszeiten vorlesen lassen können.

Die Aare Seeland Mobil, welche die Bahnstrecke Biel-Täuffelen, umgangssprachlich auch BTI genannt, unterhält, ist da bereits etwas fortschrittlicher. Auf der gesamten Strecke nach Täuffelen wird einem die Anzeigetafel auf Knopfdruck vorgelesen. Das Ganze heisst Zweisinnesprinzip. Nun möchte die SBB dies auch an ihren Bahnhöfen durchführen und ist in der Testphase. Dieses Projekt werde ‘Sprechender Bahnhof’ genannt und mit etwas Glück könne Biel einer der ersten Testbahnhöfe werden, meint Frau Garo. Eine App würde dann alle Züge vor und nach dem Einsteigen, sowie die Bahnhöfe an verschiedenen Orten zum Sprechen bringen. «Man würde dann hören: Du befindest dich bei Gleis X mit dem Zug Richtung Y. Links von dir befindet sich die Treppe. Wenn du oben angelangt bist, befindest du dich im Sektor AB», erklärt sie mir. Auch andere Projekte in der Öffentlichkeit sind in Planung oder bereits in der Testphase. In Bern werden zwei komplett audiogeführte Spaziergänge getestet. Auch hier soll ein Handy entscheidend sein und Beschreibungen wie: «Noch 20m geradeaus» liefern. Bei Ankunft vibriert es und ein Informationstext wird vorgelesen, bevor der Spaziergang weitergeführt wird.

Diese Technologie kann dann später auch auf andere Dinge übertragen werden, wie zum Beispiel den Weg zur Post oder Bank etc. Zukunftsvisionen sind zwar da, sie müssen aber noch ausgereift werden. Während ich begeistert über all diese laufenden Projekte staune, bringt Frau Garo mich wieder auf den Boden zurück. So sehr sie sich auch über diese rühmlichen Ideen freut, so muss sie die Gemeinden und Behörden doch stets daran erinnern, bei ihrer Forschung die alten Probleme nicht zu vergessen. Die Linien am Boden werden immer noch gebraucht und müssen verlegt werden, denn wenn all diese Technologien versagen, möchte sie gerne dennoch zu ihrem Zug finden.

Innere Stärke

Bevor ich dieses Restaurant betrat, fühlte ich mich etwas mulmig und unsicher. Wie geht man mit einer sehbehinderten Person um? Ich darf mich weder einschüchtern lassen noch Mitleid bekunden. Aber ganz genau so fühle ich mich. Sie tut mir extrem leid, denn ich weiss, an ihrer Stelle hätte ich unglaubliche Mühe mit meinem Schicksal fertigzuwerden. Ich neige dazu, in unfairen Lebenssituationen auf dem «Warum» herumzureiten. Oft lasse mich von kleinen Dingen entmutigen und herunterziehen, zum Beispiel von unserer gestrichenen Maturreise. Nun aber solch eine Diagnose zu bekommen und mit einer grossen Beeinträchtigung leben zu müssen, ist unvorstellbar. Mir ist klar, dass jeder Mensch Schicksalsschläge erleben wird, nur anderer Natur und Intensität. Sie sind unvorhersehbar und deshalb nicht schon im Voraus die Sorgen wert. Wenn man sich nämlich mit seinem Schicksal abgefunden hat, entdeckt man plötzlich wieder schöne Sachen und Momente.

«Viele Dinge hätte ich ohne meine Sehbehinderung gar nicht.»

«Viele Dinge hätte ich ohne meine Sehbehinderung gar nicht. Kontakte, zum Beispiel, und zwar nicht nur Blinde, sondern auch sonstige Menschen, die ich durch meine Jobs und Aktivitäten kennengelernt habe. Die sind so toll, die möchte ich auf keinen Fall missen. Auch unser heutiges Gespräch würde ich nicht führen, sähe ich nicht so schlecht. Diese Dinge finde ich grossartig», erklärt mir Frau Garo. Ihre Einstellung ist bewundernswert, denn sie stellt fest, vollkommen glücklich zu sein. Die Sehbehinderung kann ihrer Zufriedenheit nichts anhaben und sie empfindet es nicht einmal als unfair, dass es ausgerechnet sie getroffen hat. Dabei wäre dieses Gefühl gar nicht so abwegig, da die Krankheit bei ihr ohne Vererbung oder Unfall überraschend aufgetaucht ist.

Dies liegt auch an der Selbstakzeptanz, die sie sich erarbeiten musste. Sie meint, man sei ein schwieriger Mensch, solange man sich nicht selber akzeptiert habe. So treffe sie des Öfteren Menschen, die mit ihrer Behinderung nur vordergründing klarkämen, bei denen es aber im Hintergrund noch heftig brodle. Sie ist gerade deshalb so stark, weil sie weiss, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Durch das Reisen hat sie gesehen, welche Privilegien sie noch immer hat und gelernt, dankbar statt bitter zu sein.

Deswegen ist sie heute, im Gegensatz zu ihrer Kindheit und Jugend, ein positiver Mensch und geht voller Selbstvertrauen durchs Leben. Sie sieht keinen Unterschied zwischen sich und Normalsichtigen und lebt dementsprechend auch nicht im Vergleich. Wahrscheinlich sogar noch weniger als «wir», da in unserer heutigen Gesellschaft das Visuelle doch einen hohen Stellenwert hat.

Das wirklich Wichtige

Bei Begegnungen fällt mit dem Visuellen ein sehr grosser Faktor für Frau Garo weg- und schafft so mehr Raum für Umgangsformen und Charaktereigenschaften, auf die sie viel mehr Wert legt. Auch sich selbst begegnet sie auf diese Weise und fokussiert sich wenig bis gar nicht auf ihr äusseres Erscheinungsbild. Auf Schminken und neuste Mode verzichtet sie, sondern kauft nach Bequemlichkeit und Funktion, da ihr selbst bei anderen Personen solche Dinge auch nicht auffallen bzw. wichtig sind. Hingegen achtet sie sehr genau auf die Sauberkeit ihrer Kleidung und dass sie dem Event entsprechend angezogen ist. Obwohl sie ihre Einstellung sehr mag und persönliche Eigenschaften wie Loyalität und Gutherzigkeit jederzeit über das Aussehen stellt, ist damit gleichzeitig die für sie am schwersten zu tragende Beeinträchtigung verbunden: Sie kann keine Gesichter wiedererkennen.

Im Café reicht sie mir eine Simulationsbrille und bittet mich nach dem Aufsetzen eine Frau am Nebentisch zu beschreiben. Deren Gesicht ist allerdings stark verschwommen und ich erschrecke. Wie kann es sein, dass ich diese Frau kaum erkennen kann? Die Beeinträchtigung ist gewaltig. Dann schaue ich in Frau Garos Gesicht und muss mir ziemliche Mühe geben, das sich mir bietende Ergebnis mit dem Bild in meinem Kopf in Verbindung zu bringen. Wüsste ich nicht, dass Frau Garo mir gegenübersitzt, könnte ich es höchstens vermuten. Entgeistert schaue ich sie an, sie lacht. Wie ein Gesicht ausschaut ist ihr zwar nicht wichtig, sie würde es aber liebend gerne wiedererkennen können. Es ärgert sie, dass zum Beispiel ich eine halbe Stunde nach dem Gespräch in der Stadt an ihr vorbeigehen könnte und sie dies absolut nicht mitkriegen würde. Um für ihre Augen herauszustechen bräuchte ich einen roten Irokesenschnitt oder eine Leuchtweste.

Ich werde also nie ein «Hallo» von ihr kriegen, wenn ich sie vorher nicht anspreche und mich vorstelle. Sie hasst diesen Umstand, allerdings ist er unvermeidbar. Nichtsdestotrotz ist sie glücklich und geht offen auf Menschen zu. Ich habe nun kein Mitleid mit Esther Garo mehr, denn sie braucht es wirklich nicht. Sie ist unglaublich stark, mit sich im Reinen und hat sich tapfer mit ihrem Schicksal abgefunden, mehr noch, sie lebt es ohne Selbstzweifel und mit Freude aus. Etwas, was man noch lange nicht von allen Menschen behaupten kann.

Ich verlasse das Café Brésil tief in Gedanken versunken. Das Gespräch hat beinahe drei Stunden gedauert und inzwischen meldet sich mein knurrender Magen. Mein Kopf ist allerdings noch mit dem eben Gehörten beschäftigt und realisiert, welch weiten Weg ich noch gehen muss, um Esther Garos innere Stärke und ihr Vertrauen ins Gute zu erlangen. Jäh reissen mich quietschende Bremsen aus meinen Erkenntnissen und ich komme wieder in der Realität an. Und diese ist laut. Sehr laut. Vor dem Bahnhof gibt es unzählige verschiedenartige Geräusche, viele Dinge geschehen gleichzeitig, ständig fahren Autos und Busse an mir vorbei und ich fühle mich überwältigt. Ich kann mir dieses Gefühl nicht erklären, aber plötzlich scheint die Welt sich schneller zu drehen und alles gefährlicher zu sein. Alle Sinne sind momentan überreizt, mein Puls ist beschleunigt und in meinem Kopf hämmert es. Ich schliesse kurz die Augen, um sie gleich wieder aufzureissen, denn mir ist klar geworden, wie wichtig mir mein Sehsinn ist und wie viel ich ihm verdanke. Um nichts in der Welt möchte ich ihn hergeben.

Autorin Audrey Grötzinger

 

Reportage Audrey 2
Reportage Audrey

Wie geht man durchs Leben, wenn man kaum sieht, wohin man eigentlich geht? Frau Esther Garo, stark sehbehindert, plaudert gerne stundenlang offen über ihr eingeschränktes Leben und wie sie es wahrnimmt. Mit Unerschrockenheit, Lebensfreude und einer Prise Humor akzeptiert sie ihr Schicksal und meistert ihren Alltag.  Eine Reportage von Audrey Grötzinger, entstanden  im Rahmen einer Maturaarbeit.

Schlimmer geht immer

Atemlos komme ich ins Café Brésil hereingerannt. Ich bin ein paar Minuten zu spät und halte nach Frau Garo Ausschau. Es hiess, ich würde sie sofort erkennen, doch im Gewusel sticht mir niemand ins Auge. Doch, jetzt sehe ich eine Frau, die ich für Frau Garo halte, denn unter dem Tisch versteckt liegt ein tiefschwarzer Hund, vermutlich der angekündigte Blindenhund. Tief luftholend gehe ich mit durchgestrecktem Rücken, was unsinnig ist, da sie mich so deutlich gar nicht sehen kann, auf den Tisch zu und stelle mich entschuldigend vor. Binnen weniger Minuten nimmt sie mir mit ihrer freundlichen Art die Nervosität und hegt auch keinerlei Groll bezüglich meiner Verspätung.

Früher war sie allerdings viel hitziger. Als Kind wurde sie stets sehr wütend, wenn es jemand wagte, ihre Sehbehinderung zu thematisieren. Das war ein absolutes Tabu, welches zu laut zugeschlagenen Türen führte. Esther Garo wurde mit dem Grauen Star geboren, einer häufigen Krankheit unter Senioren. Das Sehzentrum muss in den ersten Lebensjahren fertig ausgebildet werden, ein Prozess, der vom Grauen Star stark behindert wird. Es handelt sich dabei um eine Linsentrübung, weshalb heutzutage bei der angeborenen Form die Linse sofort operativ durch eine künstliche ersetzt wird. Nur so kann eine vollständige Entwicklung des Sehzentrums gewährleistet werden. Damals war dieses Verfahren jedoch relativ neu und man schreckte bei Babys vor Operationen zurück.

Bei Frau Garo wurde erst einmal abgewartet. Ein paar Jahre später wurde ihr eine dicke Hornbrille auf die Nase gesetzt. So sah Frau Garo in ihrer Kindheit nicht schlecht und konnte ganz normal am alltäglichen Leben teilhaben, hatte allerdings öfters kleine, ungelenke Unfälle. Übersehene Absätze oder Treppenstufen und falsch eingeschätzte Tischecken oder Türrahmen machten sie zu einer Stammbesucherin der Notaufnahme. All jenes wurde jedoch als Tollpatschigkeit abgetan. Genaue Visuszahlen von damals kennt Frau Garo nicht, denn es gibt keine Akten mehr und sie wollte damals sowieso ganz normal behandelt werden, da sie sich selbst nicht besonders eingeschränkt fühlte.

Im Verlauf der Jahre änderte sich dies aber drastisch, denn es häuften sich Schwierigkeiten mit den schlechter werdenden Augen. Frau Garo, die gegen Ende ihrer Teenagerjahre statt der hässlichen Hornbrille Linsen zu tragen begonnen hatte, entwickelte eine Unverträglichkeit gegen eben diese und die schmerzenden, tränenden Augen wurden unaushaltbar. So entschloss sie sich mit Mitte zwanzig zu einer Operation, um endlich wieder besser oder zumindest so gut wie in Kindheitsjahren, sehen zu können. Nach nervenaufreibender Suche nach einem Arzt, der sich solch eine Linsenimplantation zutrauen würde, bekam sie endlich, was sie sich sehnlichst wünschte. Alles war gut verlaufen und Frau Garo bekam zum ersten Mal eine konkrete Diagnose: Sie hatte einen Visus von 70% auf dem besseren Auge. Das reichte sogar um Autofahren zu dürfen!

Sie war überglücklich, auch Linsen waren nicht mehr von Nöten. Leider würde diese Phase nicht lange andauern. Nur wenige Jahre nach der Operation kam ans Licht, dass ausgerechnet auf dem besseren Auge eine falsche Linse implantiert wurde. Daraufhin musste man diese wieder entfernen. Der dazu benötigte lange Schnitt hat zu einer schlimmen Hornhautverkrümmung geführt. Ihr ursprünglich gutes Auge verlor zügig an Sehkraft. Heute verbleiben 10-15% an Sehkraft. Somit blieb noch ein Auge übrig, welches aber stets das schlechtere Reserveauge gewesen war und welches auch ziemlich schnell an Sehkraft verloren hatte. Heute kann es nur noch hell und dunkel unterscheiden.

Als wäre dies nicht genug, entwickelte Frau Garo zusätzlich ein Glaukom, auch Grüner Star genannt. Das Kammerwasser in ihren Augen drückt zu stark auf den Sehnerv, was trotz Tröpfchen, die den Druck konstant halten, zu irreversiblen Sehnervschädigungen geführt hat. Heute helfen keine Brillen oder Linsen mehr, der Schaden ist irreparabel. Zukunftsaussichten: Entweder bleibt die Sehbehinderung in etwa im selben Bereich oder sie könnte sich bis zur vollständigen Erblindung verschlimmern. Ich hole tief Luft und schaue auf. Die Geschichte hat mich in ihren Bann gezogen, immer, wenn ich nicht damit gerechnet habe, hat sich die Situation noch verschlimmert.

Meine Augen wandern gehetzt durch den Raum und schlingen gierig jedes Detail auf. Ich versuche so viel und so weit wie nur möglich zu sehen. In diesem Moment bin ich einfach nur dankbar für meine Sehkraft, die ich immer als selbstverständlich abgetan habe. Als ganz kleiner Ball tief in mir hat sich eine Panik vor ähnlichem Schicksal gebildet und ich kann mich kaum auf meine nächsten Fragen konzentrieren. Ich versuche, mir meine innere Unruhe nicht anmerken zu lassen und fahre fort, denn es gibt noch viel mehr über Frau Garo zu erfahren. Ihre Vergangenheit und ihre Krankheitsgeschichte sind nicht ihr gesamter Lebensinhalt. Esther Garo hat zwei Kinder und einen Ehemann, ein hübsches Haus mit Garten, einen gut funktionierenden Alltag und viele Freunde. All diese Dinge stärken sie und geben ihr Normalität zurück.

Unterwegs mit Esther Garo

Auch mit einer so starken Sehbehinderung muss das Leben weitergehen. Gerade bei einem Haus und einer Familie fallen auf täglicher Basis viele Dinge an und die Tage sind gut gefüllt. Nur sind bei Frau Garo schon die kleinen Tätigkeiten mit Hindernissen versehen und brauchen gewisse Strategien, damit sie dennoch abgearbeitet werden können. In meinem Selbstversuch habe ich viele solcher Alltagsszenen nachgestellt und bin beispielsweise beim Kochen auf grosse Schwierigkeiten gestossen. Ich habe ein Curry zubereitet und fand nicht nur das Kleinschneiden der Zutaten kompliziert, sondern auch das Würzen. Ich habe einfach alle Gewürze mit einer Farbe zwischen gelb und rot benutzt, ohne deren Inhalt genau bestimmen zu können. Gerade bei Würzmischungen ist das Auseinanderhalten sehr schwierig. Zum Schluss habe ich gemerkt, dass es zu scharf geraten ist. Solche Probleme löst Frau Garo mit Erfahrung: Sie hat sich zwei Gewürzkistchen zugelegt. Das im Schrank vorne Stehende besteht aus den von ihr am häufigsten benutzten Gewürzen. Auf deren Deckel hat sie zusätzlich einen grossen farbigen Kleber befestigt, um sich mit Hilfe der Farben den Inhalt zu merken. Würzmissgeschicke passieren ihr jetzt nur noch selten, da sie alles zusätzlich mit dem Geruchssinn kontrollieren kann.

Vor dem Kochen muss aber eingekauft werden, was sich durchaus als Spiessrutenlauf erweisen kann. Garos Taktik ist, sich einzuprägen, wo ihre beliebtesten Produkte in ihrer gewohnten Migrosfiliale genau stehen. Wird aber etwas Exotischeres benötigt, gerät sie ins Schwitzen. Entweder sucht sie das Produkt im Laden selber und geht unter Umständen eine halbe Stunde die Regale entlang oder sie fragt einen Mitarbeiter. Ganz fies sei es, meint sie, wenn der Laden auf die Idee komme, umzubauen und das Sortiment neu einzuräumen, denn dann gehe die Suche von vorne los. Gelegentlich frage sie auch ohne Scheu andere Kunden, wenn sie das benötigte Produkt im Regal nicht erkennen könne.

«Dann kommen aber ab und zu auch Kommentare wie: Vor Ihrer Nase! Machen Sie doch die Augen auf.»

«Dann kommen aber ab und zu auch Kommentare wie: Vor Ihrer Nase! Machen Sie doch die Augen auf», erzählt sie unbeschwert, «Aber das muss man sich nicht zu Herzen nehmen, niemand kann schliesslich um meine Sehbehinderung wissen, wenn ich ohne Hund und Stock unterwegs bin.» Wenn es gar schwierig ist, kann sie alternativ auch zum Infoschalter gehen und nach einer Begleitperson verlangen, die mit ihr durch den Laden geht und für sie einkauft. Dies funktioniert jedoch nur, wenn auch jemand frei ist, sonst muss Frau Garo warten.

Obwohl sie ein sehr offener und kontaktfreudiger Mensch ist, geht sie nicht so gerne mitten unter die Leute. Sie liebt es, Freunde zu treffen und hat auch nichts gegen einen Restaurantbesuch, es soll einfach nicht allzu vollgestopft sein, weil die vielen Geräusche und die physische Enge überfordernd sein können. Auch das benötigt ein wenig Vorbereitung, Garo recherchiert gerne im Vornherein die Menükarte, da sie sie am Computer beliebig vergrössern kann. Im Restaurant wirft sie nur einen letzten Blick darüber, da sie sie meistens gar nicht lesen kann und sich die Hilfe der Begleitung oder Bedienung erbitten muss. Sie ist allerding genug selbstbewusst, um dies einfach zu tun, da sie sich nicht dafür schämt. Es kann dabei schon mal vorkommen, dass ihre Freudinnen ganz überrascht reagieren, da sie aufgrund Garos normalem Auftreten und Verhalten schon wieder vergessen haben, wie stark sehbehindert sie eigentlich ist.

Aber nach dem Essen weiterziehen in den Ausgang kann man sie nicht, da sie nichts für Clubs oder Bars übrighat. Abgesehen davon, dass es ihr keinen Spass macht, sind zu viele Menschen auf engem Raum. Das erschwert ihr die Orientation erheblich. Wer steht jetzt wo genau? Welche Person kenne ich und wer ist ein Fremder? Auch die Lautstärke ist sehr belastend, da Garo stark auf den Hörsinn fokussiert ist. So versucht sie allen zuzuhören, was in einer lauten Bar total überwältigend ist. Es wird für sie unmöglich, die Stimmen zu orten und korrekt zuzuordnen. Auf einmal klirrt es ohrenbetäubend laut. Ein Glas ist von einem Tisch gefallen und zerbrochen. Ich bemerke, wie sehr mich dies erschrocken hat und wie mein Herz rast. Rund um mich herum reden aber alle, inklusive Frau Garo, unbeirrt weiter. Es scheint niemandem so laut vorgekommen zu sein wie mir. Vermutlich habe ich mich so sehr ins Gespräch vertieft, dass ich alles andere ausgeblendet und alle Sinneseindrücke heruntergefahren habe.

Schon zuvor habe ich ab und zu Geräusche wie Stühlerücken als übermässig laut und störend empfunden. Ich komme mir gerade sehr merkwürdig vor, als würde ich mich zu sehr in Frau Garo hineinversetzen. Auf jeden Fall kann ich mir nun ansatzweise vorstellen, wie sie sich bei Lärm fühlen muss. Deswegen geht sie statt in eine Nachtbar lieber Nachhause, wo aber noch eine ganze Reihe von Dingen anfallen.

Putzen strategisch geplant

Es muss zum Beispiel geputzt werden, aber Staubsaugen, ohne den Schmutz zu sehen, stellt ein weiteres Problem dar. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass Schmutzpartikel auf dem Boden, auch wenn es grosse Brösel sind, mit Sehbehinderung so gut wie unsichtbar sind. Es kann nicht nach Augenmass gesaugt werden, sondern muss in regelmässigen zeitlichen Abständen geschehen. Eine Garantie für einen effektiv schmutzfreien Boden gibt es dafür kaum.

Hier kommt ein interessanter Trick zum Tragen, der auch ihre ebenfalls sehbehinderte Tochter anwendet, von ihnen Minecraft-Spielen genannt. Minecraft ist ein Computerspiel, in dem die Welt aus quadratischen Blöcken besteht und genau so stellen sich die beiden dann die jeweiligen Zimmer vor. Der Raum wird in Quadrate eingeteilt und dann sorgfältig abgesaugt. Sie gehen also nach Systematik und nicht nach Verschmutzung vor. Mit diesem Trick sollte eigentlich, bei gewissenhaftem Arbeiten, aller Schmutz erwischt werden, obwohl er für die beiden komplett unsichtbar ist. Schüttet Frau Garo anschliessend noch ihren Kaffee aus, steht sie erneut vor einem Problem. Sie weiss nicht sicher, wohin der Kaffee genau lief, da ihr Auge nur Umrisse wahrnimmt. Also muss sie auch hier zur Systematik greifen. Sie weiss auf welcher Tischseite der Kaffee herunterlief und beginnt alles gründlich zu reinigen, Tisch Boden Stuhl etc. Sie arbeitet bei solchen Putzaktionen stets grosszügig und putzt lieber ein paar Flächen zu viel, um sicherzugehen, dass sie nichts übersieht. Nur so kann sie am Ende des Tages guten Gewissens neben ihrem Mann, der ihr eine grosse Stütze ist, einschlafen.

Wenn am nächsten Morgen der Blindenhund zum Auslauf in den Garten gelassen wird, verrichtet dieser auch ungeniert sein Geschäft. Dieser Hund ist kein typischer Blindenhund, denn ein gewöhnlicher wird zuerst ein Jahr lang in einer Familie an alles gewöhnt und überall hin mitgenommen, in Geschäfte, an Meetings und grosse Veranstaltungen. Danach kehrt er zurück in die Ausbildungsstätte und wird während Monaten zum Blindenführhund ausgebildet. Erst jetzt kommt er circa zehn Jahre lang zu einer sehbehinderten Person in den Dienst. Frau Garos Hündin Uraya hat diese Schritte aber nicht durchlaufen, sie kam stattdessen auf Garos Wunsch direkt zu ihr. Garo steht ein Hundetrainer zur Seite, der sie anleitet, um ihren Hund selbst zu erziehen und auszubilden.

Eben diese Ausbildung ist noch nicht lückenlos abgeschlossen und so verrichtet der Hund sein Geschäft nicht nur an den antrainierten Stellen im Garten, sondern gelegentlich auch sonst wo. Da Frau Garo diese Häufchen allerdings nicht sehen kann, zückt sie gerne die Sehbehindertenkarte und lässt ihren Mann Kontrollrunden laufen um den Garten zu reinigen. Bei dieser Aussage grinst sie verschmitzt und ich spüre einen Luftzug am Bein. Erschrocken gucke ich unter den Tisch und stelle mit realisiere erst jetzt, dass der Hund die ganze Zeit über schon unter dem Tisch liegt. Er hat sich äusserst ruhig verhalten und keinen Wank gemacht, lediglich jetzt gerade den Kopf gehoben. Seine Geduld ist beeindruckend, vor allem im Vergleich zu seinen Artgenossen. Frau Garo und die Hündin sind ein gut eingespieltes Team.

Stresssituationen

Zuhause kracht es auch nicht allzu oft, ausser wenn Frau Garos Achillessehne getroffen wird. Man darf ihre Ordnung unter keinen Umständen durcheinanderbringen, das macht sie «fuchsteufelswild». Sie mag es nicht, wenn ihr Portemonnaie nach fremder Benützung auf einer anderen Ablagefläche deponiert wird, da sie es nur mit Mühe sieht und so ewig suchen muss. Alle Dinge haben ihren festen Platz, die einzige Möglichkeit, um effizientes Finden und Fortbewegen zu ermöglichen. Als sehende Person ist dies schwieriger nachzuvollziehen und so passiert auch ihrem Mann hin und wieder ein Fauxpas. Ich kenne dies nur allzu gut. Täglich lege ich meine Sachen achtlos irgendwo hin und muss sie danach suchen gehen. Dies verdeutlicht, wie sehr sich sehende Menschen auf genau diesen Sinn verlassen und alles andere vernachlässigen.

Sie leben viel unbewusster und vergessen viele ihrer Aktionen wieder, wohingegen Sehbehinderte darauf angewiesen sind, sich zu erinnern. Dementsprechend handeln sie bewusster und nehmen dabei auch viel mehr wahr. Es ist für sie überlebenswichtig, da sie, nicht wie «wir», eventuelle Fehler mit dem Sehsinn ausbügeln können. Treffen nun die beiden Welten aufeinander, kann dies zu Reibereien führen. Frau Garo kann zum Beispiel aufgrund ihrer Sehbehinderung zwar nicht besser hören, aber dafür genauer hinhören. Da sie die extreme Fixierung auf den Sehsinn nicht hat, sind ihre anderen Sinne viel trainierter als bei Normalsichtigen. Das kann dann dazu führen, dass ihr Mann den Kindern befiehlt, sich die Zähne zu putzen, während Frau Garo sich aufregt, da sie das leise Brummen der elektrischen Zahnbürste aus dem oberen Stock schon vor 10 Minuten wahrgenommen hat.

Zu solchen Konflikten gehören auch die achtlos auf dem schwarzen Teppich abgestellte dunkle Sporttasche ihres Mannes, die zum gefährlichen Stolperstein für Frau Garo wird. Wenigstens in Bereich der Kindererziehung kann sie nun etwas entspannen, denn ihre beiden Kinder sind im fortgeschrittenen Teenageralter und ziemlich selbstständig. Als sehbehinderte Mutter ist es nämlich sehr anstrengend, zwei Kleinkinder zu haben, besonders Spielplatzbesuche zehren an den Nerven. «Das sind Scheisssituationen», erklärt Frau Garo. «Ich habe ihnen von Anfang an eingetrichtert, dass sie immer mich suchen müssen und nicht umgekehrt, da ich keine Chance dazu hätte.» Um sich etwas zu helfen hat sie ihre Kinder stets in leuchtende Farben gekleidet oder ihnen aussergewöhnliche Mützen aufgesetzt, damit ihr Auge sie von den anderen Kindern abheben kann. In dem Gewusel keine einfache Sache. Ins Schwimmbad ging sie aber nie mit ihnen, da dort im Becken für sie wirklich gar kein Unterschied mehr erkennbar war und die Verantwortung somit untragbar. Erst nachdem sie schwimmen gelernt hatten, traute Frau Garo sich mit ihren Kindern in öffentliche Becken. Bis heute mag sie Sport in der Öffentlichkeit nicht besonders, da sie sich dann auch den Platz ihrer abgestellten Dinge merken muss und bei Spinden mit zu kleinen Nummern auch noch abzählen, welchen sie nun genau benutzt. Geht sie schwimmen im See, muss sie sich auch anhand von Bäumen oder anderen grossen Umrissen den Ausstiegsort merken, damit sie nicht plötzlich nicht mehr zurückfindet. In einem, für viele ganz normalen Alltag verstecken sich für Sehbehinderte wie Esther Garo jede Menge Hürden, die mit Tricks und Hilfsmitteln gelöst werden müssen.

Verloren in der Welt

Das allergrösste und auch stets im Alltag wiederkehrende Thema für Sehbehinderte ist die Orientierung. Meine eigene Strasse war mir bei meinem fünfminütigen, sehbehinderten Spaziergang teilweise fremdgeworden. Die Umrisse und Farben suggerierten mir eine total andere Umgebung als tatsächlich vor mir lag. Meine Nerven waren sehr angespannt. Kleine Unebenheiten können zu Stolpersteinen werden, wichtige Schilder können aufgrund von unlesbarer Schrift zu gefährlichen Situationen führen. Menschen und Fahrzeuge werden schnell übersehen oder für etwas anderes gehalten. In fremder Umgebung wird es noch viel schlimmer. Als ich auf dem Trottoir die Strasse entlangging, konnte ich kaum 20 Meter weit sehen. Das war eine sehr unangenehme Situation für mich, da ich nur schlecht abschätzen konnte, welche Strassenbegebenheiten mich erwarteten und ich auch mehrmals von plötzlich auftauchenden Personen, überrascht wurde. Diese erschütternde Unberechenbarkeit kann zu einer grossen Unsicherheit und Angst auf der Strasse führen.

Frau Garo hat natürlich mehr Übung in Orientierung und kennt ihre Umgebung mittlerweile in und auswendig. In ihrem Kopf befindet sich ein Strassenplan. Alle Orte, an denen sie bereits war, sind für immer eingespeichert. Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis entwickelt und muss alle neuen Wege nur einmal gehen, bevor sie sie memorisiert hat und jederzeit selbstbewusst abgehen kann. Muss sie zum Beispiel geschäftlich nach Bern, schaut sie sich vorher online die Strecke an. Muss sie erneut dorthin, kennt sie den Weg bereits auswendig. Das trifft allerdings nicht zwangsläufig auf jede sehbehinderte Person zu, sondern ist eine Fähigkeit, die Frau Garo erlernt hat. In bekannter Umgebung ist die Orientierung aber einfacher, da Umrisse vertrauter sind. Im Ausland kann ein Bus schnell für eine Häuserzeile gehalten werden, da Farbe und Form noch nicht zugeordnet werden können. Wir haben dies im Café Brésil, welches sich am Bahnhof befindet, direkt mit den Simulationsbrillen ausprobiert.

Tatsächlich wusste ich nur wegen des Standorts und der mir bekannten roten Farbe, dass gerade ein Bus an der Haltestelle hielt. Es hätte genauso gut ein Gebäude sein können. Ich ging also davon aus, dass Frau Garo deswegen keine grossen Reisen unternahm, zumindest nicht alleine. Beherzt fällt sie mir ins Wort und erklärt, dass diese Schwierigkeiten sie nie abgehalten hätten, sie habe sogar schon in Frankreich und Russland gearbeitet. Sie wird etwas nostalgisch und denkt einen Moment lang schweigend an alte Zeiten zurück. Dann beginnt sie eine der spannendsten Geschichten, die ich je gehört habe, zu erzählen. Ich höre an ihrem Ton heraus, welches Vergnügen ihr das Reisen früher bereitet hat und wie selbstverständlich es für sie trotz Sehbehinderung ist.

Vor fast zwanzig Jahren ist sie wegen eines Jobangebots für ein halbes Jahr nach Moskau gezogen. Damals war ihre Sehbehinderung noch nicht so schlimm wie heute, dennoch ziemlich einschränkend. So kam es, dass sie am zweiten Abend die Wohnung verliess, um zu ihrer Schule zu gelangen. Sie hatte in letzter Sekunde ihre Jacke gewechselt und so ihre Adresse nicht dabei. Auf dem Heimweg war sie vermutlich der falschen U-Bahn-Station ausgestiegen und fand sich in fremder Umgebung wieder. Nach stundenlangem Umherlaufen und -fahren gab sie auf und fand sich heulend auf einer Bank wieder. Sie kannte weder Adresse noch Namen der Gastfamilie und sprach kein Wort russisch. Vor ihr lag ein Riesenproblem und sie wusste in ihrer Verzweiflung weder ein noch aus. Zu ihrem Glück kam nach einer Weile ein Pärchen auf sie zu. Die Kommunikation war eine grosse Hürde, da das Pärchen nur Bruchstücke der englischen Sprache beherrschte. Mangels anderer Auswege vertraute Frau Garo ihnen blind und sie gingen gemeinsam jede Treppe jeder U-Bahn-Station hoch, um sich die Umgebung anzuschauen. Moskau ist riesig und es dauerte. Alles was Esther Garo noch wusste, war dass die Wohnung an einer grossen Strasse und dann in einer Seitengasse rechts lag. Um halb zwölf Uhr nachts fanden sie die Wohnung tatsächlich. Alle waren überglücklich. Ihre beiden Retter in der Not sah sie zu ihrem Bedauern nie wieder, sie hätte ihnen doch so gerne noch einmal richtig gedankt und ihnen ein Geschenk gemacht. Zuhause hatte sie zusätzlich noch den Code für die Haustüre nicht mehr im Kopf und musste so eine weitere halbe Stunde warten, bis jemand das Gebäude verliess. Nach dieser Nacht hat Frau Garo sich dazu entschlossen, sich von jetzt an alles ganz genau zu merken.

Ich habe mich auch schon öfters verlaufen, dies aber ohne Sehbehinderung und meist mit einem Handy in der Tasche. Deshalb kann ich mir diese Situation in Moskau kaum vorstellen, da ich weiss, wie schnell ich mich in den Sog der Angst ziehen lasse. Die Erzählung hat mir die Nackenhaare aufgestellt, denn es ist eine meiner Horrorvorstellungen. Dennoch hatte Frau Garo Glück, denn das Ganze hätte weitaus schlimmere Folgen als nur einen grossen Schrecken haben können. Erzählungen, die sie zuvor gehört hatte, zufolge, hätte sie von der russischen Polizei aufgegriffen und ausgeraubt im Gefängnis landen können. So bangte sie in dieser Nacht um ihr Leben.

Innovation ist gefragt

Gerade weil Frau Garo exakt solche Situationen erlebt hat und selbst mit einer starken Sehbehinderung durchs Leben geht, ist sie in ihrem Beruf so erfolgreich. Sie arbeitet beim Schweizerischen Sehbehinderten- und Blindenverband im Sektor Biel und Seeland. Daneben hat sie einen weiteren Job bei Sensability, einem Unternehmen, welches Sensibilisierungen durchführt. Hierbei handelt es sich nicht nur um Sehbehinderungen, es nehmen auch Taube und Stumme, sowie Rollstuhlgänger oder psychisch Behinderte an den Sensibilisierungen in Schulen, Firmen etc. teil. Der Hauptteil Garos Arbeit besteht allerdings darin, die Stadt für Sehbehinderte zugänglicher zu machen.

Dazu setzt sie sich für Blindenstreifen am Boden und Markierungen vor den vordersten Bustüren ein. Die sind mit dem Blindenstock spürbar und so wissen Sehbehinderte, wo sich die Tür befindet. Der Chauffeur kann sie dann über seine Linie informieren. Des Weiteren kämpft sie auch für auditive Hilfsmittel, namentlich in Braille- und Reliefschrift angeschriebene Infoknöpfe in der Stadt, welche Informationen vorlesen. In Bern zum Beispiel, gibt es solche schon, in Biel muss sie noch dafür kämpfen, dass sich Blinde und Sehbehinderte z.B. an Bushaltestellen die Abfahrtszeiten vorlesen lassen können.

Die Aare Seeland Mobil, welche die Bahnstrecke Biel-Täuffelen, umgangssprachlich auch BTI genannt, unterhält, ist da bereits etwas fortschrittlicher. Auf der gesamten Strecke nach Täuffelen wird einem die Anzeigetafel auf Knopfdruck vorgelesen. Das Ganze heisst Zweisinnesprinzip. Nun möchte die SBB dies auch an ihren Bahnhöfen durchführen und ist in der Testphase. Dieses Projekt werde ‘Sprechender Bahnhof’ genannt und mit etwas Glück könne Biel einer der ersten Testbahnhöfe werden, meint Frau Garo. Eine App würde dann alle Züge vor und nach dem Einsteigen, sowie die Bahnhöfe an verschiedenen Orten zum Sprechen bringen. «Man würde dann hören: Du befindest dich bei Gleis X mit dem Zug Richtung Y. Links von dir befindet sich die Treppe. Wenn du oben angelangt bist, befindest du dich im Sektor AB», erklärt sie mir. Auch andere Projekte in der Öffentlichkeit sind in Planung oder bereits in der Testphase. In Bern werden zwei komplett audiogeführte Spaziergänge getestet. Auch hier soll ein Handy entscheidend sein und Beschreibungen wie: «Noch 20m geradeaus» liefern. Bei Ankunft vibriert es und ein Informationstext wird vorgelesen, bevor der Spaziergang weitergeführt wird.

Diese Technologie kann dann später auch auf andere Dinge übertragen werden, wie zum Beispiel den Weg zur Post oder Bank etc. Zukunftsvisionen sind zwar da, sie müssen aber noch ausgereift werden. Während ich begeistert über all diese laufenden Projekte staune, bringt Frau Garo mich wieder auf den Boden zurück. So sehr sie sich auch über diese rühmlichen Ideen freut, so muss sie die Gemeinden und Behörden doch stets daran erinnern, bei ihrer Forschung die alten Probleme nicht zu vergessen. Die Linien am Boden werden immer noch gebraucht und müssen verlegt werden, denn wenn all diese Technologien versagen, möchte sie gerne dennoch zu ihrem Zug finden.

Innere Stärke

Bevor ich dieses Restaurant betrat, fühlte ich mich etwas mulmig und unsicher. Wie geht man mit einer sehbehinderten Person um? Ich darf mich weder einschüchtern lassen noch Mitleid bekunden. Aber ganz genau so fühle ich mich. Sie tut mir extrem leid, denn ich weiss, an ihrer Stelle hätte ich unglaubliche Mühe mit meinem Schicksal fertigzuwerden. Ich neige dazu, in unfairen Lebenssituationen auf dem «Warum» herumzureiten. Oft lasse mich von kleinen Dingen entmutigen und herunterziehen, zum Beispiel von unserer gestrichenen Maturreise. Nun aber solch eine Diagnose zu bekommen und mit einer grossen Beeinträchtigung leben zu müssen, ist unvorstellbar. Mir ist klar, dass jeder Mensch Schicksalsschläge erleben wird, nur anderer Natur und Intensität. Sie sind unvorhersehbar und deshalb nicht schon im Voraus die Sorgen wert. Wenn man sich nämlich mit seinem Schicksal abgefunden hat, entdeckt man plötzlich wieder schöne Sachen und Momente.

«Viele Dinge hätte ich ohne meine Sehbehinderung gar nicht.»

«Viele Dinge hätte ich ohne meine Sehbehinderung gar nicht. Kontakte, zum Beispiel, und zwar nicht nur Blinde, sondern auch sonstige Menschen, die ich durch meine Jobs und Aktivitäten kennengelernt habe. Die sind so toll, die möchte ich auf keinen Fall missen. Auch unser heutiges Gespräch würde ich nicht führen, sähe ich nicht so schlecht. Diese Dinge finde ich grossartig», erklärt mir Frau Garo. Ihre Einstellung ist bewundernswert, denn sie stellt fest, vollkommen glücklich zu sein. Die Sehbehinderung kann ihrer Zufriedenheit nichts anhaben und sie empfindet es nicht einmal als unfair, dass es ausgerechnet sie getroffen hat. Dabei wäre dieses Gefühl gar nicht so abwegig, da die Krankheit bei ihr ohne Vererbung oder Unfall überraschend aufgetaucht ist.

Dies liegt auch an der Selbstakzeptanz, die sie sich erarbeiten musste. Sie meint, man sei ein schwieriger Mensch, solange man sich nicht selber akzeptiert habe. So treffe sie des Öfteren Menschen, die mit ihrer Behinderung nur vordergründing klarkämen, bei denen es aber im Hintergrund noch heftig brodle. Sie ist gerade deshalb so stark, weil sie weiss, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Durch das Reisen hat sie gesehen, welche Privilegien sie noch immer hat und gelernt, dankbar statt bitter zu sein.

Deswegen ist sie heute, im Gegensatz zu ihrer Kindheit und Jugend, ein positiver Mensch und geht voller Selbstvertrauen durchs Leben. Sie sieht keinen Unterschied zwischen sich und Normalsichtigen und lebt dementsprechend auch nicht im Vergleich. Wahrscheinlich sogar noch weniger als «wir», da in unserer heutigen Gesellschaft das Visuelle doch einen hohen Stellenwert hat.

Das wirklich Wichtige

Bei Begegnungen fällt mit dem Visuellen ein sehr grosser Faktor für Frau Garo weg- und schafft so mehr Raum für Umgangsformen und Charaktereigenschaften, auf die sie viel mehr Wert legt. Auch sich selbst begegnet sie auf diese Weise und fokussiert sich wenig bis gar nicht auf ihr äusseres Erscheinungsbild. Auf Schminken und neuste Mode verzichtet sie, sondern kauft nach Bequemlichkeit und Funktion, da ihr selbst bei anderen Personen solche Dinge auch nicht auffallen bzw. wichtig sind. Hingegen achtet sie sehr genau auf die Sauberkeit ihrer Kleidung und dass sie dem Event entsprechend angezogen ist. Obwohl sie ihre Einstellung sehr mag und persönliche Eigenschaften wie Loyalität und Gutherzigkeit jederzeit über das Aussehen stellt, ist damit gleichzeitig die für sie am schwersten zu tragende Beeinträchtigung verbunden: Sie kann keine Gesichter wiedererkennen.

Im Café reicht sie mir eine Simulationsbrille und bittet mich nach dem Aufsetzen eine Frau am Nebentisch zu beschreiben. Deren Gesicht ist allerdings stark verschwommen und ich erschrecke. Wie kann es sein, dass ich diese Frau kaum erkennen kann? Die Beeinträchtigung ist gewaltig. Dann schaue ich in Frau Garos Gesicht und muss mir ziemliche Mühe geben, das sich mir bietende Ergebnis mit dem Bild in meinem Kopf in Verbindung zu bringen. Wüsste ich nicht, dass Frau Garo mir gegenübersitzt, könnte ich es höchstens vermuten. Entgeistert schaue ich sie an, sie lacht. Wie ein Gesicht ausschaut ist ihr zwar nicht wichtig, sie würde es aber liebend gerne wiedererkennen können. Es ärgert sie, dass zum Beispiel ich eine halbe Stunde nach dem Gespräch in der Stadt an ihr vorbeigehen könnte und sie dies absolut nicht mitkriegen würde. Um für ihre Augen herauszustechen bräuchte ich einen roten Irokesenschnitt oder eine Leuchtweste.

Ich werde also nie ein «Hallo» von ihr kriegen, wenn ich sie vorher nicht anspreche und mich vorstelle. Sie hasst diesen Umstand, allerdings ist er unvermeidbar. Nichtsdestotrotz ist sie glücklich und geht offen auf Menschen zu. Ich habe nun kein Mitleid mit Esther Garo mehr, denn sie braucht es wirklich nicht. Sie ist unglaublich stark, mit sich im Reinen und hat sich tapfer mit ihrem Schicksal abgefunden, mehr noch, sie lebt es ohne Selbstzweifel und mit Freude aus. Etwas, was man noch lange nicht von allen Menschen behaupten kann.

Ich verlasse das Café Brésil tief in Gedanken versunken. Das Gespräch hat beinahe drei Stunden gedauert und inzwischen meldet sich mein knurrender Magen. Mein Kopf ist allerdings noch mit dem eben Gehörten beschäftigt und realisiert, welch weiten Weg ich noch gehen muss, um Esther Garos innere Stärke und ihr Vertrauen ins Gute zu erlangen. Jäh reissen mich quietschende Bremsen aus meinen Erkenntnissen und ich komme wieder in der Realität an. Und diese ist laut. Sehr laut. Vor dem Bahnhof gibt es unzählige verschiedenartige Geräusche, viele Dinge geschehen gleichzeitig, ständig fahren Autos und Busse an mir vorbei und ich fühle mich überwältigt. Ich kann mir dieses Gefühl nicht erklären, aber plötzlich scheint die Welt sich schneller zu drehen und alles gefährlicher zu sein. Alle Sinne sind momentan überreizt, mein Puls ist beschleunigt und in meinem Kopf hämmert es. Ich schliesse kurz die Augen, um sie gleich wieder aufzureissen, denn mir ist klar geworden, wie wichtig mir mein Sehsinn ist und wie viel ich ihm verdanke. Um nichts in der Welt möchte ich ihn hergeben.

Autorin Audrey Grötzinger

 

Reportage Audrey 2

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